Das Dorfgemeinschaftshaus
Das Dorfgemeinschaftshaus - Die „Soziale Aufrüstung des Dorfes“
Ein sperriger Begriff, die „Soziale Aufrüstung“, fast militärisch anmutend und aus einer Zeit stammend, in der Deutschland keine eigenen Soldaten hatte. Man schrieb das Jahr 1952. Ministerpräsident des Landes Hessen war seit 14.12.1950 Georg August Zinn (bis 3.10.1969). Die älteren Medenbacher – und nicht nur diese – erinnern sich an ihn mit größter Hochachtung. Er wollte aus Hessen ein „sozialdemokratisches Musterland“ machen und wurde ein Landesvater wie kaum ein anderer. Und er machte Politik für den ländlichen Raum. Einstimmig hatte der Landtag am 3.4.1952 das Programm zur „Sozialen Aufrüstung des Dorfes“ verabschiedet. Es eröffnete den Bau von „Dorfgemeinschaftshäusern“ als soziale und kulturelle Einrichtungen, die ein Segen für die Entwicklung der Dörfer waren und Vorbild für andere Länder. Es entstanden Mittelpunktschulen, und mit dem Programm „Technische Aufrüstung“ gelang eine Modernisierung der Landwirtschaft – im zweiten Jahrzehnt nach dem Krieg.
Der Medenbacher Bürgermeister Karl Kugler begab sich bereits ein Jahr nach dem Landtagsbeschluss auf den Weg zu den Ämtern, um Möglichkeiten für die Realisierung eines solchen Gemeinschaftshauses zu erkunden. Die Ergebnisse waren ermutigend, es gab erhebliche Finanzierungszuschüsse. 1954 beschloss die Gemeindevertretung den Erwerb des Grundstückes Hauptstraße Ecke Neustraße und 1955 den Bau eines Dorfgemeinschaftshauses. Das 80-jährige Jubiläum des Gesangsvereins Eintracht wurde vor Baubeginn im Mai 1955 auf dem hergerichteten Gelände gefeiert, mit Zelt und Musik. In zwei Bürgerversammlungen wurde Einvernehmen mit einer Beteiligung jedes Haushaltes in Höhe von 65, - DM erzielt.
Die zügige Vorgehensweise bei der Realisierung und die große Aufgeschlossenheit der Bevölkerung waren nicht überall selbstverständlich. Die katholischen Bischöfe warnten vor diesem neuen Dorfmittelpunkt als Konkurrenz zur Kirche. Auch Bundestagspräsident Gerstenmaier kritisierte in der Evangelischen Akademie im hessischen Arnoldshain diese „Klubhäuser“, die der Kirche ihren angestammten Platz als geistigem Mittelpunkt des Dorfes streitig machen wollten – und fühlte sich später „missverstanden“. Die evangelischen Synoden sahen die Einrichtungen als „segensreich, wenn die Kirche freudig mittut.“
In einigen Dörfern fürchteten die Gastwirte Einnahmeverluste, wenn die Dorfjugend oder Vereine womöglich aus den Schankstuben abwanderten. Rudi Noll, Sohn des legendären „Schwanewirts“ in Medenbach sah keine Konkurrenz: „Die Ausstattung passte zum Ort, bewirtschaftet war die Einrichtung nicht, ein großer Saal war nicht vorhanden. Bei uns ging nach der Einweihung alles wie zuvor. Auch die Vereinsversammlungen fanden weiter im „Schwanen“ statt.“ Andere lehnten das Projekt mit der Begründung ab: „Man braucht`s nicht.“ Bäder, Kühlschränke, Waschmaschinen würde es bald in jedem Privathaushalt geben. Auch davon war keine Rede in Medenbach, die Leute hatten für solche Anschaffungen noch zu wenig Geld. Die hiesige Bevölkerung war von den Vorteilen moderner Arbeitshilfen und sozialer Gemeinschaftseinrichtungen überzeugt. Zehn Jahre später sah es etwas anders aus.
Zügig erstellte das Architekturbüro Jurisch aus Frankfurt 1955 die Ausschreibungsunterlagen und innerhalb weniger Wochen waren die ersten Arbeiten vergeben. Mit den Ausschachtungsarbeiten konnte noch im selben Jahr begonnen werden. Der Baufortschritt ermöglichte, bereits am 5.4.1956 Richtfest zu feiern und am 16.9.1956 das Dorfgemeinschaftshaus einzuweihen. Prominente Gäste waren u.a. Hermann Schmidt-Vockenhausen MdB, Landrat Dr. Wagenbach, Pfarrer Wilhelmi und Vertreter des Architekturbüros. Am Nachmittag kam der Ministerpräsident zur Besichtigung.
Die größte Bedeutung in der damaligen Zeit hatte für die Bauern, aber auch die vielen Medenbacher mit Gärten, in denen damals noch Obst und Gemüse angebaut wurde, die im Erdgeschoss eingerichtete Gemeinschaftsgefrieranlage mit 54 Boxen. Jede war größer als ein Kühlschrank. Die Landwirte konnten die beiden Schweinehälften nach dem Schlachten in eine eigene Gefrierkammer hängen und später teilen und verarbeiten. Zugängig war die Anlage von der heutigen Fritz-Erler-Straße aus. Bei der Einweihung des Dorfgemeinschaftshauses und danach kamen viele Besuchergruppen, auch aus dem Ausland. 24 Vereine in der Umgebung hatte Bürgermeister Kugler insbesondere zur Besichtigung der neuen Gefrieranlage (war damals noch unbekannt) eingeladen.
Auch die beiden Großwaschmaschinen, die Wäscheschleuder und die Heißmangel wurden bald intensiv genutzt. Natürlich gab es eine moderne Toilettenanlage. Die drei Wannenbäder und Duschräume waren bereits mit einer Entnebelungsanlage und Alarmklingeln ausgestattet und erfreuten sich großer Beliebtheit. Ein Brausebad kostete 0,50 DM, ein Wannenbad 0,70 DM. Das Gebäude umfasste im Obergeschoss Räume für einen Kindergarten, einen großen Gemeinschaftsraum mit Nebenraum, Wohnungen für die Hausmeisterin und die Kindergärtnerin sowie weitere Gemeinschaftsräume. Bei Beerdigungsfeiern waren 10, - DM und bei Familienfeiern 20, - DM zu entrichten.
Auch ein Fernseher gehörte zur Einrichtung. Seit 1958 gab es eine Kelterei. Räume für die Mütterberatung und eine - zunächst bescheidene - Gemeindebibliothek ergänzten das Angebot.
Das Wiesbadener Tagblatt titelte: „Das Gemeinschaftshaus ist die gute Stube des Dorfes“ und zitierte den stolzen Bürgermeister Kugler: „In der Stadt gibt es auch nichts Schöneres.“ „Festungen der sozialen Dorfaufrüstung“ wurden die Dorfgemeinschaftshäuser in ihrer Zeit auch einmal genannt.
In den siebziger Jahren hatten sich die Lebensverhältnisse der Menschen verändert, sie waren besser geworden. Die Mosterei wie auch die Heißmangel und Wäscherei wurden nicht mehr benötigt. Der Raum wurde zu einem Gemeinschaftsraum mit Küche umgebaut und von Vereinen, für Familienfeiern und als Jugendraum genutzt. Nachdem man die Gefrieranlage nicht mehr nutzte, wurden diese Räumlichkeiten 1979 der Jugend zur Verfügung gestellt. Als der Kindergarten in ein neues Gebäude zog, hielt die Ortsverwaltung Einzug ins Dorfgemeinschaftshaus.
Mit der Eröffnung des neuen Bürgerhauses im Januar 2018 erhielten die Ortsverwaltung, der Ortsbeirat und das Ortsgericht neue Räume. Das ehemalige Dorfgemeinschaftshaus wurde verkauft und dient heute Wohnzwecken.